Dunkle, tiefe Nacht
Jesus Christus spricht, in der Welt habt ihr Angst, auf der Erde seid ihr andauernd in Bedrängnis, erst im Himmel seid ihr frei von den Qualen des irdischen Daseins. Doch wer vermag heute noch aus den Worten des Nazareners seine Lebensberechtigung abzuleiten? Während ich mir eine Zigarette anzünde, überkommt mich beim Anblick des Schockbildchens auf der Tabakverpackung ein leicht bedrückendes Gefühl, ein Gefühl von Angst vor einem qual- und leidvollen Tod. Alles andere bin ich bereit hinzunehmen, wenn ich dabei nur nicht allzu sehr körperlichen Leiden ausgesetzt wäre. Einsam sein, von mir aus, aber einsam und physisch schwer krank? Das male ich mir erst einmal gar nicht aus. Aber irgendwie bedeutet leben, langsam aber sicher dahinzusiechen und sich den offenen Armen des Todes allmählich anzuvertrauen.
Das ewige Gerede vom Tod und vom Sterben kommt immer zur Unzeit. Doch wenn man durch die spärlich beleuchtete Szenerie der Tage zwischen Weihnachten und Silvester stolpert, wird einem klar, dass jeder von uns ein mehr oder weniger bestimmtes Ablaufdatum hat. Der Pegel der Melancholie erreicht in dieser Zeit mitunter seinen Höchststand, knietief watet man durch Ströme aus Wehmut und Leid. Die dünne Suppe der zwischenmenschlichen Beziehungen köchelt vor sich hin. Schon Jahre ist es her, dass man sich einem Gegenüber hingegeben hat, man hat den Geschmack und Geruch eines unbekannten Liebesobjekt schon längst vergessen.
Das alte Jahr liegt in den letzten Zügen, doch was gibt es zu feiern, wenn man kaum noch einen hoch bekommt? Sicher, man soll froh sein, dass man überhaupt noch am Leben ist. Die Gotteshypothese lässt sich, so meint man, weder beweisen noch widerlegen, weshalb man sich dazu verpflichtet fühlt einen Kompromiss zu schließen. Also, was solls, denkt man bei sich, und gleitet hinüber in ein neues Jahr.
Vielleicht ist es auch ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen. Der Niedergang der christlichen Zivilisation ist offensichtlich und die Überhandnahme der Political Correctness offenbart sich als ihr sichtbarstes Zeichen. Darüber hinaus haben auch soziale und materielle Drangsale zugenommen. Bindungen zerbrechen unter der Macht wirtschaftlicher Zwänge, Inflation und Armut breiten sich aus. Die Bewohner des christlichen Abendlandes sind zusehends der Einsamkeit ausgeliefert, die Liebe zwischen ihnen flackert nur für den Augenblick auf und entpuppt sich immer häufiger als eine Angelegenheit, deren Zustandekommen auf einem Missverständnis beruht. Die Maschinerie des U.S.-Kulturimperialismus dagegen schnurrt wie ein zufriedenes Kätzchen und überzieht den gesamten Erdball mit der Ausstrahlung von Netflix und Amazon Serien. Ja, es wird getwittert und auf Instagram werden Fotos hochgeladen, um die Schar der Follower zu erhöhen. Single-Haushalte, Fuckbuddies und Fast Food nehmen Überhand und tun das Übrige, um einer hochgradigen Verzweiflung hilflos anheim zu fallen. Die Leuchtreklamen der Großstadt beleuchten die ruinierten städtischen Landschaften eines adrett abgewickelten Niedergangs. In den Altenheimen wechseln Pflegekräfte Windeln, Pharmaka werden verabreicht und zu Weihnachten singt man „Stille Nacht“. Das Fundament der Familien wird allmählich abgetragen und den Betroffenen bleibt nichts weiter über als mit den Schultern zu zucken, während sie online den Einkommensteuerbescheid ausfüllen.
Was wäre, wenn Jesus heute wiederkäme, frage ich mich?
Jesus hat das Kreuz des Menschseins getragen, er hat das Leiden des Todes durchmessen, obschon er rein und ohne Sünde war. Ihm waren und sind die Abgründe des Menschen in keiner Weise fremd, egal ob sie sich im alten Israel vor über 2000 Jahren zugetragen haben oder ob sie sich in den modernen Großstädten der Welt im Jahr 2023 abspielen. Kierkegaard hat auf die Gleichzeitigkeit von Jesus Christus zu allen Zeiten hingewiesen. Es ist vielleicht doch so, dass in unserer gottesfernen Zeit Jesus Christus näher ist, als wir es eigentlich wahrhaben wollen. Die Ehebrecherin, der Zöllner und der Heide, all sie erfahren ihren Freispruch, egal zu welcher Zeit. Eine tiefe Sehnsucht nach diesem erlösenden Freispruch umfängt mich heute, in dieser tiefen, dunklen Nacht.