Die Zugfahrt

 

Zugfahrt Salzburg-Wien. Die Stimmung ähnelt der eines verglasten Großraumbüros einer Versicherungsanstalt. Es herrscht völlige Unverbundenheit, sozial organisierte Anonymität, die sich ausdehnt und den kompletten Innenraum der Zugabteile organisiert. Zwischen all den Fremden, die da auf engstem Raum zusammengekommen sind, haben sich unsichtbare Fassaden aufgebaut, die scheinbar undurchdringbar und unüberwindbar sind. Die Folgen des individuellen Lebensstils werden in ihren Auswirkungen spürbar. Die Geschwindigkeitsanzeige vermeldet ein Tempo von 219km/h. Die grüne Landschaft rast an uns vorbei. Der Macht der menschlichen Technik scheinen keine Grenzen gesetzt und dennoch ist da ein unbestimmtes Gefühl der Verzweiflung, das sich meiner bemächtigt hat. Wie ist all das aushaltbar? Ich fühle mich furchtbar einsam und denke, dass nichts in meinem Leben auch nur den geringsten Sinn hat. Deshalb versuche ich, mich an meine tägliche Yoga-Praxis zu erinnern. Ich appelliere an meine animalischen Instinkte, atme ein, atme aus, spüre das Blut, wie es durch meine Adern fließt und meinen Puls antreibt und strebe nach dem höchsten Bewusstheitszustandes.

Die menschliche Zivilisation hat uns allesamt in ein Dilemma geführt. Sie hat unsere tierischen Qualitäten immer mehr in den Hintergrund gedrängt, doch durch den konstanten Prozess der Sublimierung samt der sich dadurch ergebende Kulturleistungen staut sich eine beständig wachsende Macht an tierisch gespeisten Aggressionen in uns auf. Wir beherrschen die äußere Natur und streben gleichsam nach vollkommener Selbstkontrolle. Wie kann es uns gelingen, in diesem Zwiespalt als unbeschädigte moralische Subjekte hervorzugehen? Ist moralisches Fühlen, Denken und Handeln erlernbar? Wie kann man es dauerhaft in seinem Leben etablieren, damit letzteres gelingt?

Der Zug schnellt hinein in die aufkommende Dämmerung. Er fährt der Dunkelheit entgegen. Noch immer keimt in mir der Wunsch nach einer sanften Verbindung zwischen den Menschen, doch ich bin in keiner Weise dazu in der Lage, diese Verbindung auch nur im Ansatz herzustellen. Wir werden unser Ziel erreichen, wir werden auseinanderdriften und heimkehren in unsere gesellschaftlich organisierten Wohneinheiten. Unsere Einsamkeit wird uns verschlingen.