Ringen

 

Es gab eine Zeit, da wurde der Mensch erst zum Menschen, indem er mit Gott rang. Jakob, der Anherr des jüdischen Glaubens, dient uns als Blaupause für unsere eigene Menschwerdung, für unser Dasein als freie, mit einem Willen ausgestattete Subjekte. So wie Jakob mit Gott gerungen hat, ringe ich mit mir selbst, mit dem Leben und der Welt, in die mich das Leben geworfen hat. Wie eine blinde Frucht bin ich dem Mutterschoß entkrochen und versuche seitdem, mich in den Wirren der Existenz zurecht zu finden. Ich fasse allzu oft ins Leere, unfähig einen Sinn zu fassen. Doch ich gebe nicht auf.  Nichts als die Erzählungen der Weltliteratur verleihen meinem Dasein einen tieferen Sinn. Indem ich mich in den Verstrickungen der Protagonisten der großen Romane ein wenig wiederzuerkennen vermag, verstehe ich das Leben besser. Die Psychologie des Menschen ist nirgends besser nachzuempfinden, als in einem großen literarischen Werk. Wenn es dem Schriftsteller gelingt, dass man sich als Leser mit seinen Helden zu indentifizieren vermag, erfährt man Augenblicke der Entrückheit und zugleich Momente der zarten Verbundenheit. Man leidet, man freut sich, man erkennt sich selbst wieder und wird durch die so gewonnene Lebenserfahrung etwas milder gegen die eigenen Mängel und Defekte. Denn man begreift: Niemand ist gefeit vor Torheit, vor Schwachheit, vor Verrückheit und davor, vom rechten Weg abzukommen. Wie heißt es schon in der Heiligen Schrift: "Der Gerechte fällt siebenmal am Tag und steht wieder auf, aber die Gottlosen stürzen ins Unglück."