Die Frau

 

Ein Mädchen, besser gesagt eine jugendhafte Frau; an die vierzig Jahre, bestimmt in ihrem Auftreten und sanft zugleich. Ihr Teint ist dunkel und ihr gesamtes Wesen ist von einer tiefen und zugleich hellen Harmonie durchwoben. Aus den kastanienfarbigen Augen blitzt eine scharfsinnige Intelligenz hervor, eine Reife und ein lebhaftes Gemüt. Mit der Art, wie sie spricht, zieht sie alle um sich herum in ihren Bann. Diese Frau hat sich erhoben über ihre Dämonen, sie hat sie allesamt überwunden und thront nun auf dem Sessel ihrer Selbstwerdung. Ich betrachte sie, ihre sanften Gesten, die sie mit ihren Händen ausführt, ich beobachte ihren Mund, mit dem sie Worte bildet und ausspricht. Ich bin betört, fasziniert, hin- und hergerissen. Wie entrückt bin ich, armseliges Wesen, das ich bin, von diesem Weib! Wie weit weg ist ihr Busen von meinem leidgeprüften Sein! Nur aus der Entfernung ist es mir möglich, Blicke von ihrem geschmeidigen Körper, ihrer honigfarbenen Seele, zu erhaschen. Ich sitze neben ihr wie ein Hund, den man seinen Knochen abgenommen hat; hänge an ihren Lippen und weiß doch nicht, wie ich ihr beikommen könnte. Die Zeit fließt dahin wie ein Rinnsal und ich bin nichts weiter als besessen, besessen von ihr. Sie ist entzückend. Und mein Leben, das grau und fahl ist, wie ein Januarmorgen, wird jäh in einen Strahl aus gleißendem Licht getaucht. Vorbei ist der Moder, vorbei die schmachvolle Stille in meinem Herzen. Doch da ist diese Entfernung zwischen uns beiden, nicht einmal mit Sieben-Meilen-Stiefeln wäre ich in der Lage, sie einzuholen, so weit weg erscheint sie mir. Ich strecke mich nach ihr, ich recke meinen Hals, bin gierig; ich nehme mir vor, auszuharren, zu warten, bis ein neuerliches Zusammentreffen im Bereich des Möglichen ist.  Ein unglaublich heiterer Tag geht zu Ende, das Licht des Tages schmilzt dahin und ich harre der Dämmerung, die sich allmählich über die Stadt legt. Noch schwirren die Schwalben hoch in den Sommerhimmel, noch glänzt das karminrote Dach der Sozialbauanlage in der untergehenden Sonne; noch habe ich den Glauben nicht verloren. Den Glauben daran, dass das Schicksal mit seinen Wendungen und Abirrungen für mich ein Kapitel parat hält, das zu lesen sich lohnt.